Viele unserer Kunden und Übersetzer bieten uns das „Du“ an – sei es über den Hashtag #gerneperdu in der E-Mail-Signatur oder indem sie uns direkt mit „Liebe Anne, hier kommt ein Text, der dringend lektoriert werden muss.“ anschreiben. Während wir früher eher höflich oder verwirrt mit „Sie“ antworteten, auch weil die meisten bei uns gar nicht Anne heißen, duzen wir mittlerweile auch mal zurück (und führen Listen, mit wem wir per Du sind, um nicht durcheinanderzukommen).
In den sozialen Medien ist das „Du“ sowieso Standard und auch im Online-Handel heißt es oft: „Deine Bestellung bei GrandioseGeschenke.de ist schon auf dem Weg zu dir.“ Oder: „Möglicherweise hast du vergessen, deine Rechnung zu bezahlen.“ Wann wird sich wohl das Finanzamt melden und monieren: „Leider hast du deine Einkommensteuererklärung immer noch nicht eingereicht“?
#CallMeByMyFirstName – oder: Wie ist es in anderen Sprachen und Ländern?
Wer aus einer Fremdsprache übersetzt, steht oft vor dem Problem: Wann duze ich? Wann sieze ich? Denn es besteht immer die Gefahr kultureller Missverständnisse, wie folgendes Beispiel zeigt:
Ein deutscher Hersteller von Babynahrung gibt eine Broschüre heraus, in der Mama und Papa vertraulich geduzt werden: „Im 6. Monat kannst du deinem Baby gekochte pürierte Möhren geben.“
Nun wird die Broschüre ins Türkische übersetzt. Der türkische Übersetzer findet, dass die jungen Eltern auch im Türkischen mit Du angesprochen werden können. Doch andere Muttersprachler sehen das ganz anders: Es sei absolut unüblich, wenn ein Unternehmen seine Kunden und die Leser der Broschüre mit „Du“ anspricht. In ihrer Kultur sei das „Du“ Familie und Freunden vorbehalten.
Was in einer Kultur als freundlich und nahbar gilt, kann in der anderen fast als respektlos oder unprofessionell angesehen werden.
Andere Länder – andere Anreden
Die Anrede spiegelt kulturelle Werte, soziale Hierarchien und zwischenmenschliche Beziehungen wider. In vielen Sprachen, wie dem Deutschen, Französischen, Russischen oder eben dem Türkischen, wird zwischen dem förmlichen Sie und dem vertraulichen Du unterschieden.
- In Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Trend zum Duzen entwickelt, besonders in der Werbung und in Branchen, die ein junges, dynamisches Image pflegen.
- In Frankreich hingegen wird „vous“ (Sie) nach wie vor häufig verwendet, selbst in relativ lockeren Situationen.
- Die türkische Kultur legt großen Wert auf Respekt und Höflichkeit, was sich in einem vorsichtigeren Umgang mit der Du-Form äußert.
- Gleiches gilt für Übersetzungen ins Russische. Im Geschäftsleben sollte man im Regelfall das russische Pendant zum „Sie“ wählen.
Eine simple Wort-für-Wort-Übersetzung reicht also oftmals nicht aus. Stattdessen muss der kulturelle Kontext berücksichtigt werden.
Sprachen ohne Unterscheidung zwischen „Du“ und „Sie“
Eine besondere Herausforderung stellen Sprachen dar, die nicht zwischen den Anreden unterscheiden, wenn man sie ins Deutsche übersetzen will, zum Beispiel das Englische. Dort gibt es nur die Anrede „you“. Bei der Übersetzung besteht also Interpretationsspielraum.
„How can you improve your diet?“
In einer seriös wirkenden medizinischen Broschüre wäre sicher „Wie können Sie sich besser ernähren?“ angemessen.
Auf einer Social-Media-Plattform oder in einer persönlichen Gesundheits-App dagegen würde es eher heißen: „Wie kannst du dich besser ernähren?“
Sprachwandel
Sprache und kulturelle Normen ändern sich ständig. Was vor zehn Jahren als angemessen galt, kann heute veraltet wirken.
Deshalb müssen Übersetzer genau wie Unternehmen stets auf dem Laufenden bleiben und ihre Strategien regelmäßig überprüfen.
Übersetzungsstrategien: mehr als nur Wörter übertragen
Diese Fragen sollten sich Auftraggeber von Übersetzungen sowie Übersetzer stellen:
- Wer ist die Zielgruppe? Für wen ist die Übersetzung? Für junge, moderne Leute oder ein älteres, konservatives Publikum? Wenn man es ganz genau wissen will: Mit A/B-Tests in der Zielsprache kann man testen, welche Anredeform bei der Zielgruppe am besten ankommt.
- Welche Branche? In manchen Branchen, zum Beispiel der Kreativwirtschaft, ist ein lockererer Ton üblich. In anderen Bereichen ist man eher konservativ.
- Wo erscheint die Übersetzung? Die Anrede in einer Broschüre kann anders ausfallen als in einer E-Mail oder auf einer Website.
- Was will man mit der Veröffentlichung erreichen? Abstimmungen zwischen Übersetzungsagentur/Übersetzern und Auftraggebern helfen, den richtigen Ton zu treffen und die richtige Anrede zu wählen.
- Welche kulturellen Besonderheiten gibt es? Neben der perfekten Beherrschung der Zielsprache ist ein tiefes Verständnis der Zielkultur unerlässlich, um die angemessene Anredeform zu wählen.
Fazit: Sensibilität und Flexibilität sind gefragt
Die Wahl zwischen „Du“ und „Sie“ in Übersetzungen ist weit mehr als eine grammatikalische Entscheidung. Sie ist ein Balanceakt zwischen kultureller Sensibilität, Markenidentität und Zielgruppenerwartungen. Eine falsche Wahl kann im besten Fall zu leichter Verwirrung führen, im schlimmsten Fall aber potenzielle Kunden vergraulen oder gar das Image eines Unternehmens beschädigen.
Wir empfehlen Ihnen daher:
- Investieren Sie in kulturelle Kompetenz.
- Bleiben Sie flexibel und bereit, Ihre Strategie anzupassen.
- Holen Sie Feedback von Muttersprachlern ein.
- Beobachten Sie Trends in der Zielsprache und -kultur.
Immer geht es darum, eine Brücke zwischen Kulturen zu bauen und die Botschaft so zu übermitteln, dass sie in der Zielkultur genau so ankommt wie beabsichtigt. Dabei unterstützen wir und unser Netzwerk aus Native Speakern Sie sehr gern.
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